Dienstag, 3. Mai 2022

Macht- und Hilflosigkeit

Triggerwarnung: Ich schreibe hier über meine Erfahrungen als Seelsorger. Manche Menschen leben in so einer Dunkelheit, dass es angesichts von Leid und Hoffnungslosigkeit niemanden gibt, der es in der Gemeinschaft mir solchen Lebensschicksalen aushält. Dann ist die einzige Hilfe, die man geben kann,  einen Menschen in seiner Dunkelheit für eine Zeit lang nicht alleine zu lassen. Dabei muss man Aushalten das Leid eines Menschen nicht wegnehmen zu können. Wenn du es in solch einer Dunkelheit nicht aushälst, solltest du diesen Post hier nicht lesen.

 

Manchmal werden die eigenen Wünsche erfüllt und man fragt sich, ob der Wunsch wirklich so gut war. Seit ich in diesem Blog schreibe, denke ich über das Konzept Gemeinde nach und wie ich mir Gemeinde vorstelle. Das Verhältnis von Politik und Kirche hat mich schon früh interessiert, war aber leider nie Teil meines Studiums. Meine Idee ist, dass eine Ortsgemeinde sich nicht in die Politik einmischt, aber durch ihr Wirken zu einem prägenden Faktor unserer Gesellschaft werden.
Jesus hat nie eine politische Partei gegründet oder ein politisches Amt bekleidet, sondern er hat den Menschen eine neue Art zu Leben gezeigt. Mit der Ausbreitung des Christentums im römischen Reich haben immer mehr Menschen ihre Art zu leben verändert und somit das gesamte gesellschaftliche Leben entscheident geprägt.
Diese Veränderung war so nachhaltig, dass heute in Europa die allermeisten Werte, christliche Werte sind - selbst bei Menschen, die nicht an Gott glauben.
Meine Idee von einer deutschen Gemeinde im 21. Jahrhundert ist eine Gemeinde, die durch ihr diakonisches Handeln eine gute Vernetzung in der eigenen Stadt hat. Ich denke Gemeinde also nicht als eine gesellschaftlich-isolierte Gruppe.

Die Gemeinde, in der ich jetz bin, kommt diesem Bild erstaunlich Nahe. Das freut mich, aber ich merke auch welche Schattenseiten in meinem Wunschtraum nicht eingeplant waren. An meiner (hochgeschätzen) Heimatgemeinde hat mich gestört, dass es kaum Verbidungen zu denen Ausgegrenzten und Schwachen unserer Gesellschaft gab. Jetzt habe ich diesen Kontakt und kann das Scheitern unseres Sozialstaates deutlicher erkennen als mir lieb ist.
In der Bergpredigt sagte Jesus: "Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden." Noch nie habe ich so unter dem Mangel an Gerechtigkeit und Barmherzig gehungert wie hier. Der Kontakt zu den Ausgegrenzten und Schwachen ist der Kontakt zu den Wehrlosen, Ausgebeuteten und Kranken.
Seelsorgegespräche und Krankenbesuche habe ich bereits in meiner Zeit als Jugendleiter gemacht, aber der permanente Kontakt zu Menschen deren Gesundheit stetig schlechter wird, malt mir deutlich die Grenzen unserer medizinischen Möglichkeiten vor Augen. Mit dem Tod freunde ich mich mit jeder Beerdigung etwas mehr an, aber leicht fällt es mir immer noch nicht. Ich kenne Pastoren, die Beerdigungen lieber machen als Hochzeiten, weil man bei den Beerdigungen viel näher an dem ist, was Menschen im innersten bewegt. - Ich bevorzuge Hochzeiten und das obwohl jede Hochzeit die schmerzlich Frage in mir aufwirft, ob ich jemals meine eigene Hochzeit feiern werde. Mal sehen, ob ich mich eines Tages an den Tod gewöhnen werde. Mit dem Tod endet immerhin das Leid. Das hat auch etwas befreiendes, wenn ich den Schmerz von kranken Menschen sehe. Ich würde gerne Leid und Schmerzen nehmen, doch diese Gabe habe ich nicht. So höre ich Geschichten von Operationen, gesundheitlichen Einschränkungen, Schmerzen und Medikamenten. Auf dem Heimweg denke ich dann manchmal an Mt 25,36. Dort sagte Jesus "Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht." Jesus sagte nicht "Ich bin krank gewesen und ihr habt mich geheilt." Ich will weiter besuchen, auch wenn es mir schwer fällt nicht heilen zu können.

Neben meiner Machtlosigkeit gegenüber Krankheit und Tod steht meine sehr kleine Macht gegenüber Folter und Verfolgung. Ich hatte bereits in meinem letzten Wohnort Lebensgeschichten von traumatisierten Menschen gehört. Menschen deren Leben über Jahrzehnte hinweg ein einziger Alptraum waren.  Heute schreibe ich "Bescheinigungen über kirchliche Aktivitäten" für deutsche Gerichte, die prüfen sollen, ob der christliche Glaube eines Menschen ein "identitätsprägendes Merkmal" ist. Es ist wie ein ganz schlechter Witz. Ich höre Geschichten von Steinigungen, Foltergefängnissen, ermodeten Verwandten, Erpressungen, Vergwaltigungen usw. und dann entscheiden atheistische Richter, dass der Glaube von hochaktiven Gemeindemitgliedern nicht authentisch genug ist, weil ihr Glaube keine absurden Vorurteile über das Christentum bestätigt und schicken Menschen zurück in diese Länder. Später fragt die Sachbearbeiterin beim Amt, warum die abgelehnte Asylbewerberin bei der Abschiebung ein Messer gezogen hat und ist beruhigt, weil die Frau mit dem Messer nur suizid begehen und nicht die Polizisten angreifen wollte. Jetzt beschäftige ich mich plötzlich mit Gesetzen, Anwälten und wie man Menschen auf Gerichtstermine vorbereitet, in denen ihre Abschiebung zum Foltertod beschlossen wird. 
Dann komm ich nach Hause und höre in den Nachrichten, dass Deutschland gerade anfängt mit diesen Ländern über Öl- und Gasimporte zu verhandeln, weil man sich nicht mehr von Diktaturen abhängig machen will.

Jetzt hab ich sie, die Nähe zu den Menschen außerhalb einer sozial-isolierten Gemeinde. Ich sollte vielleicht mehr darüber nachdenken, um was ich Gott bitte. Meiner eigenen Machtlosigkeit angesicht von so viel Ungerechtigkeit und Elend zu sehen ist extrem schwer. Letzte Woche hatten wir wieder ein Friedensgebet in unserer Gemeinde. Der Moderator erzählte davon, wie schwer es ihm fällt mit seiner Machtlosigkeit umzugehen und keine Lösungen zu haben. Seine Hoffnung war, dass unsere Hilfslosigkeit uns weiter in Gottes Arme treibt. Der Gedanke gefällt mir.

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